Sashverstand

Tauwetter

Nachdem das Video eines jungen YouTubers die politische Landschaft ordentlich aufgescheucht hatte, könnte man meinen, dass einige derjenigen, die sich von der darin gebündelten Kritik angesprochen fühlen müssten, nun kollektiv in sich gehen und endlich beginnen, den inhaltlichen Dialog zu suchen. Aber weit gefehlt. Zu beobachten war zuletzt eigentlich fast durchweg eher, wie sich die Fronten in Politik wie Gesellschaft trotz unzähliger Fakten und Belege in der Sache – vor allem in Bezug auf die drohende Klimakatastrophe – verhärten, weil die kritisierte Seite nun seit Wochen krampfhaft versucht, den hartnäckigen Gegenwind irgendwie auszusitzen, im besten Falle wegzulächeln, im schlimmsten Falle zu unterdrücken.

Bei aller inhaltlichen Notwendigkeit einer zielführenden, faktenbasierten Debatte zur Thematik selbst, fällt dabei vor allem eines auf: Wie es so weit kommen konnte, erklärt sich nicht alleine durch eine unterschiedliche Sichtweise zwischen der Regierungspolitik der letzten Jahre und weiten Teilen der insbesondere jüngeren Gesellschaft und auch nicht nur durch das Ignorieren von Wissenschaft bei politischen Prozessen. Entscheidend ist – neben einer gehörigen Portion Inkompetenz auf vielen Ebenen – eher die antiquierte Haltung innerhalb einer Debattenkultur von vorgestern, in welcher der konservative Standpunkt fast nur noch davon zu leben scheint, dass er eben von vorgestern ist und nach wie vor diejenigen anspricht, die gerne einfach immer alles so lassen wollen, wie es ist und zuletzt war.

„Wenn der Schnee geschmolzen ist, siehst du, wo die Kacke liegt.“

— Rudi Assauer

Rezos Video hat viel mehr den Ursprung eines großen Teils der Problematik in Politik aber auch Gesellschaft offengelegt, als einfach nur die reinen Fakten des Misstands gewisser Politikfelder aneinander gereiht. Es ist Tauwetter. Jetzt, wo sich der Wind gedreht hat und die Verantwortlichen in akute Erklärungsnot geraten, zeigt sich, was übrig bleibt von der stoischen Fassade einer angeblich souveränen Politik der letzten Jahre samt derjenigen, die sie mitgetragen haben. Die ignoranten, diffamierenden, teilweise schon demokratiegefährdend anmutenden Reaktionen gegenüber Rezos Kritik, den Fridays For Future Protesten, den Haltung zeigenden Wissenschaftlern etc., lassen erahnen, wie alles so weit kommen konnte. Warum gestaltende Akteure der Politik so lange derart untätig und selbstzufrieden sein konnten. Weil jenes Gebaren der politisch Verantwortlichen auch ein Abbild der alltäglichen Gleichgültigkeit ihrer Wählerschaft zu den wichtigen Themen unserer Zeit darstellt. Es wurde jahrelang stillschweigend von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen und das hat tiefe Spuren im Status Quo hinterlassen.

Das alles sollte uns vor Augen führen, dass man eben doch etwas bewirken kann. Mit Stimmrecht bei Wahlen, aber auch im eigenen Dunstkreis des alltäglichen Lebens. Dass man auch als Einzelperson ein gewisses Maß an Einfluss innerhalb einer Gesellschaft hat bzw. haben kann. Wenn man denn möchte. Und dazu muss man nicht mal YouTuber sein oder ein Blog führen oder warten, bis wieder eine Wahl ansteht. Denn nicht nur an der Wahlurne zeigt sich, wer aufgepasst hat. Freiheit und Demokratie sind deutlich mehr, als die großzügige Möglichkeit, in gewissen Abständen mal ein Kreuzchen machen zu dürfen. Freiheit und Demokratie bedeuten Verantwortung. Die ständige Verpflichtung zum wahrhaftigen Interesse an den Problemen unserer Zeit. Wir alle müssen spätestens jetzt genauer hinschauen. Auch bei uns selbst.